F. Bodendiek: Schückings Konzeption der internationalen Ordnung

Titel
Walther Schückings Konzeption der internationalen Ordnung. Dogmatische Strukturen und ideengeschichtliche Bedeutung


Autor(en)
Bodendiek, Frank
Reihe
Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel 133
Erschienen
Anzahl Seiten
382 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bardo Fassbender, Institut für Völker- und Europarecht, Humboldt-Universität zu Berlin

„Walther Schücking ne sera jamais oublié“, überschrieb Gilbert Gidel, Professor der Rechtswissenschaft der Universität Paris, im Jahre 1935 seine Erinnerungen an den kurz zuvor verstorbenen deutschen Juristen. 1 Wie so oft blieb die Hoffnung, die diese Voraussage eigentlich ausdrückte, unerfüllt. Heute ist Schücking nur noch den wenigen ein Begriff, die sich für die Geschichte des Völkerrechts, insbesondere in der Zeit des Ersten Weltkriegs, des Völkerbundes und der Friedensbewegung interessieren. Von seinen zahlreichen Werken wird allein noch sein zusammen mit Hans Wehberg verfasster Kommentar zur Satzung des Völkerbundes (1921, 2. Auflage 1924, 3. Auflage, Bd. 1, 1931) gelegentlich zitiert.

Walther Schücking (1875-1935) gehörte für die Deutsche Demokratische Partei der Verfassunggebenden Nationalversammlung von Weimar und dem Reichstag an (bis 1928).2 Als Schüler des Göttinger Professors Ludwig von Bar 1899 habilitiert, war er ordentlicher Professor in Marburg (1903-1919) und Kiel (1926-1933). Im September 1930 wurde er als erster Deutscher zum Richter am Ständigen Internationalen Gerichtshof im Haag gewählt; nach seinem Tode sollte es 46 Jahre dauern, bis 1976 mit Hermann Mosler wieder ein Deutscher auf der Richterbank Platz nehmen konnte. Während des Ersten Weltkriegs und danach setzte sich Schücking unermüdlich für die internationale Verständigung und Organisation ein; er bekleidete unter anderem führende Ämter in der Deutschen Friedensgesellschaft, der Deutschen Liga für Völkerbund, der Interparlamentarischen Union sowie der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht. Von 1923 bis 1935 war er Mitherausgeber und regelmäßiger Autor der Friedens-Warte3, deren Bd. 35 (1935) seinem Andenken gewidmet ist. Der Kreis der Verfasser der Erinnerungsaufsätze, zu dem W.J.M. van Eysinga, Gilbert Gidel, Paul Guggenheim, Ake Hammarskjöld, Max Huber, Nicolas Politis, Wilhelm Röpke, Georges Scelle, James Brown Scott, Jean Spiropoulos und Charles de Visscher gehörten, zeigt das enorme internationale Ansehen, das Schücking genoss. Schücking war ein wahrer Kosmopolit,4 der an die Möglichkeit einer Überwindung des engstirnigen Nationalismus und Militarismus und die Aufrichtung einer gerechten und effektiven internationalen Organisation der Staatengemeinschaft glaubte. Noch in einem seiner letzten Aufsätze schrieb er in dem Schatten, den Hitler bereits über Europa warf: „Wir müssen an den Sieg der Vernunft glauben, um überhaupt etwas auf Erden leisten zu können. Wo im politischen Zusammenleben der Menschen ein Fortschritt erreicht worden ist, haben ihn Erwägungen der Vernunft herbeigeführt.“5

Frank Bodendieks Arbeit, eine von Jost Delbrück betreute Kieler juristische Dissertation, konzentriert sich auf das wissenschaftliche Werk Schückings, vor allem seine völkerrechtliche Konzeption internationaler Ordnung. Im ersten Kapitel (S. 23-115) werden Schückings Zeit, sein Lebenslauf und sein literarisches Schaffen in Kürze vorgestellt. Dabei konnte sich Bodendiek insbesondere auf die 1970 erschienene Arbeit von Detlev Acker 6 stützen. Das zweite Kapitel (S. 116-284) bildet unter der Überschrift „Schückings Konzeption der internationalen Ordnung“ das Hauptstück des Buches. Nach einer Auseinandersetzung mit Schückings philosophischer und methodischer Grundhaltung vor dem Hintergrund der abweichenden Mehrheitsmeinung in der deutschen Völkerrechtswissenschaft seiner Zeit arbeitet der Verfasser als Schückings völkerrechtlichen und völkerrechtspolitischen Leitgedanken die Maxime „Frieden durch rechtliche Organisation der Welt“ heraus: „Schücking ging in seiner gesamten völkerrechtlichen Arbeit von der Grundannahme aus, daß der Frieden in der Welt nur durch eine Verrechtlichung der internationalen Beziehungen zu erreichen ist. Mit seiner Intention, ‚Frieden durch Recht‘ schaffen zu wollen, stellte Schücking sich eindeutig in die Tradition Kants“ (S. 156). „[Für Schücking war] die Organisation der Staatengemeinschaft in Form eines Weltstaatenbundes bzw. Völkerbundes der Schlüssel für die Wahrung des internationalen Friedens mit rechtlichen Mitteln“ (S. 280).

Anschließend entfaltet der Verfasser Einzelheiten der Schückingschen Konzeption der internationalen Ordnung. Als Elemente eines Systems der Friedenssicherung, wie es Schücking entwarf und propagierte, identifiziert Bodendiek insbesondere das Kriegsverbot, die Schaffung von Verfahren der friedlichen Streitbeilegung sowie einer internationalen Exekutive, das Prinzip der Abrüstung und Rüstungsbeschränkung, die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, die Kodifikation des Völkerrechts sowie die „Sozialisierung des Völkerrechts“, worunter Schücking einen Ausgleich zwischen den Interessen der internationalen Gemeinschaft und den Partikularinteressen einzelner Staaten verstand (vgl. S. 267-270). Der Verfasser kommt zu dem Schluss, das Bedeutende an Schückings Konzeption sei die Verknüpfung dieser einzelnen Elemente und die Erkenntnis ihrer Interdependenz. Dagegen hätten viele Kollegen in isolierter Form auf einzelne Institutionen wie zum Beispiel eine obligatorische gerichtliche oder schiedsgerichtliche Streitbeilegung abgestellt (vgl. S. 280 ff.). Ein Vergleich der Konzeption Schückings mit den Regelungen der UN-Charta von 1945 zeigt, dass Schücking ein bedeutender Vordenker der nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten völkerrechtlichen Ordnung war. Er erkannte klar die Richtung, in der das System der Völkerbundssatzung weiterentwickelt werden musste, wenn die Staatengemeinschaft eine wirksame Wahrung des Weltfriedens erreichen wollte.

Das dritte Kapitel des Buches (S. 285-294) beleuchtet die Tätigkeit Schückings am Ständigen Internationalen Gerichtshof, also seine Arbeit als von Deutschland berufener judge ad hoc im Wimbledon-Fall (1923) und im deutsch-polnischen Streit um die Minderheitenschulen in Oberschlesien (1928) sowie als ordentlicher Richter von 1931 bis 1935. In drei sehr kurzen Schlusskapiteln, die vielleicht besser zu einem zusammengefasst worden wären, unternimmt der Verfasser den „Versuch einer zusammenfassenden Würdigung des wissenschaftlichen Werks von Walther Schücking“ (S. 295-299), bewertet die Rezeption dieses Werks nach 1945 (S. 300-309) und nimmt Stellung zur „Relevanz der Ideen Schückings für die Gegenwart“ (S. 310-313). Ein Literatur- und Quellenverzeichnis (das auf S. 314-333 eine chronologisch geordnete Liste aller Veröffentlichungen Schückings, also auch der staatsrechtlichen, historischen und literarischen Arbeiten, enthält), ein Personen- und ein Sachwortregister beschließen das Buch.

Bodendieks Arbeit verdient großes Lob. Sie ist in ihren Überlegungen und ihrer Darstellung äußerst sorgfältig, aber niemals weitschweifig, eindringlich, aber – wie die Schriften Schückings – gedanklich und sprachlich klar und luzide; sie ist von Sympathie für Schücking getragen, aber nicht unkritisch. Der Verfasser zeigt in überzeugender Weise, dass von einer in sich stimmigen Schückingschen „Konzeption“ einer internationalen Ordnung gesprochen werden kann, auch wenn Schücking sie nie in geschlossener Form präsentiert hat. In Bodendieks Rekonstruktion tritt sie nun deutlich hervor. Aus heutiger Sicht fällt auf, dass in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg fast das ganze Programm Schückings (seinerzeit das Programm einer kleinen Gruppe außerhalb des völkerrechtswissenschaftlichen main stream) allgemeine Anerkennung gefunden hat, sowohl in der Politik wie der Völkerrechtslehre der Bundesrepublik Deutschland – und zwar vermittelt durch die Regelungen der UN-Charta, hinter denen die völkerrechtspolitischen Überzeugungen und die faktische Macht der Großmächte (jedenfalls der westlichen) standen. Ob Schücking diese große Wendung der deutschen Völkerrechtslehre als verspätete Einsicht begrüßt oder eher als opportunistische Anpassung an die neuen Machtverhältnisse kritisch betrachtet hätte, wissen wir nicht.

In seinem Kapitel über die Rezeption des Werkes Schückings stellt der Verfasser die Frage, warum nach 1945 selbst Schückings theoretische Überlegungen zur internationalen Organisation, die keineswegs veraltet waren, eine nur geringe Beachtung fanden (S. 306). Bodendieks Hauptantwort – „eine gewisse Indifferenz [der deutschen Völkerrechtslehre] gegenüber dem Problem der Friedenssicherung“ – ist gewiss zutreffend. Doch fehlt in der Erklärung ein vielleicht wichtigeres persönliches Moment, das bereits Wehberg in seinem Gedenkaufsatz von 1935 ansprach, als er Schücking zu den „Außenseitern“ seines Fachs rechnete: „Es ist eine merkwürdige Tatsache“, schrieb Wehberg, „daß die Wissenschaft ihre tiefsten Anregungen für die Fortentwicklung des Völkerrechts Außenseitern verdankt, daß dagegen die Völkerrechtslehrer selbst, nicht nur in Deutschland, sondern auch anderswo, von Zukunftsmusik wenig hören wollten“.7 Schücking war ein Außenseiter, und er blieb es für die tonangebende Mehrheit der deutschen Völkerrechtslehre, der auch nach dem Zweiten Weltkrieg Schückings liberal-kosmopolitischer Geist fremd blieb.

Bodendieks kurze Bemerkungen über die „Relevanz der Ideen Schückings für die Gegenwart“ (das heißt eigentlich: für die heutige Völkerrechtslehre) (S. 310-313) gelangen über den Gemeinplatz, irgendwie sei Schückings Kerngedanke der Notwendigkeit einer Verrechtlichung der internationalen Beziehungen auch heute noch wichtig und anregend, nicht hinaus. Die beiden zentralen Fragen werden nicht gestellt: Hat sich Schückings Konzeption einer internationalen Ordnung in der modifizierten Gestalt, in der sie 1945 mit der UN-Charta Verwirklichung gefunden hat, bewährt? Und hat diese Konzeption eine Zukunft in einer neuen, von der alleinigen Vormachtstellung der Vereinigten Staaten von Amerika geprägten Weltordnung? Mit anderen Worten: Sind die während des Ersten Weltkriegs und in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelten Ideen zur internationalen Friedenssicherung mit völkerrechtlichen Mitteln heute noch trag- und entwicklungsfähig? Es liegt auf der Hand, dass der Versuch, diese Fragen zu beantworten, den Rahmen der völkerrechtshistorischen Arbeit Bodendieks völlig gesprengt hätte. Die Richtung der notwendigen Überlegungen hat interessanterweise schon 1935 Max Huber in seinem Aufsatz „Walther Schücking und die Völkerrechtswissenschaft“ angedeutet: „Wie alles Menschliche, so haben auch die Ideen und Bestrebungen des Menschen ihre Zeit. Sie haben ihren Platz und ihre Berechtigung in ihrer Umwelt und ihrer Zeitperiode. Sie müssen aus dieser heraus verstanden werden, aber in einer anderen Zeit vielleicht umgestaltet und zum Teil preisgegeben werden.“8

Die Arbeit ruht auf einer breiten quellenmäßigen Grundlage. Der Verfasser hat sowohl die zeitgenössische völkerrechtliche Literatur wie den ungedruckten Nachlass Schückings herangezogen. Gelegentlich wäre es wünschenswert gewesen, der Verfasser hätte über den Nachlass hinaus noch weitere archivalische Quellen benutzt, um bestimmte Sachverhalte aufzuklären: War zum Beispiel die Entscheidung der Reichsregierung, Schücking für das Amt des Richters am StIGH vorzuschlagen, hauptsächlich dem Einsatz des (wie Schücking der DDP angehörenden) Justizministers Koch-Weser geschuldet? Wie verhielten sich die anderen politischen Parteien und die Ministerialbürokratie? (Vgl. S. 76 f.) Hier hätten wohl die im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes verwahrten Akten weiteren Aufschluss geben können. Interessant ist auch die Frage, welche Kräfte innerhalb der NSDAP und der Reichsregierung im Jahre 1933 Schückings Entfernung aus dem Staatsdienst betrieben und ihn zur Aufgabe seines Richteramtes drängten (vgl. S. 78 ff.).9 Doch kann dem Verfasser der Verzicht auf eine solche weitergehende archivalische Forschung zur Biografie Schückings nicht vorgeworfen werden, weil eigentliches Thema seiner Arbeit Schückings wissenschaftliches Werk ist, dieses Thema aber ganz umfassend behandelt wird.

Bodendiek charakterisiert Schückings völkerrechtliches Werk in Kürze mit den folgenden Worten: „Das Hauptgewicht der wissenschaftlichen Originalität Schückings lag eindeutig in der Entfaltung des Völkerbundgedankens in der Zeit vor 1914. [Es ist] das bleibende Verdienst Schückings, den Gedanken des allgemeinen Staatenbundes in einer Zeit wieder auf die Agenda der deutschen Völkerrechtswissenschaft gesetzt zu haben, in der die Schaffung des Völkerbundes noch überhaupt nicht abzusehen war und der Gedanke eines Weltstaatenbundes selbst bei progressiven Kollegen noch keine Beachtung fand. Schückings Bemühungen gingen vor allem dahin, die Bedeutung der Organisationsidee als Schlüssel zur Friedenssicherung herauszustellen und die Zusammenhänge der einzelnen Elemente eines Friedenssicherungssystems klarzulegen. Er wollte dem Staatenbundsgedanken das Illusionäre nehmen und ihn als konkret realisierbare rechtspolitische Forderung präsentieren. Nach dem Ersten Weltkrieg konnte Schücking sich als führender Experte des nunmehr tatsächlich geltenden Rechts des Völkerbundes etablieren. [Schücking] kommt auf dem Weg der deutschen Völkerrechtslehre in die Moderne der organisierten Staatengemeinschaft eine Schlüsselrolle zu“ (S. 297 ff.). Diese Würdigung wird Schücking gerecht. Er war ein „grand internationaliste“ und ein „grand Européen“ – und mehr noch: ein „grand homme de science, de bien et de bonne volonté“ (Gilbert Gidel).10 Frank Bodendiek hat sein Werk kenntnisreich und klug in Erinnerung gerufen.

Anmerkungen
1 Die Friedens-Warte (FW) 35 (1935), S. 184.
2 Vgl. zu seiner Biografie neben der historischen Dissertation von Detlev Acker: Walther Schücking (1875-1935), Münster 1970 und der hier besprochenen Arbeit insbesondere Hans Wehberg: Das Leben Walther Schückings, FW 35 (1935), S. 162-175; vgl. auch Frank Bodendiek: Walther Schücking und Hans Wehberg – Pazifistische Völkerrechtslehre in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, FW 74 (1999), S. 79-97.
3 Das Gesamtinhaltsverzeichnis der FW von 1999 (S. 471) verzeichnet für den Zeitraum von 1911 bis 1935 vierzehn Beiträge Schückings.
4 Vgl. meine Bemerkungen: Walther Schücking–Champion of the League of Nations Idea in Pre-World War I-Germany. Beitrag im Panel "The Academic as Cosmopolite: Legal Visions of International Governance in the 20th Century"; Zusammenfassung in “The American Society of International Law - Proceedings of the 93rd Annual Meeting 1999”, S. 329 f.
5 Walther Schücking: Was heisst Pazifismus? FW 35 (1935), S. 1-6 (2).
6 Vgl. Anm. 2.
7 Wehberg: Das Leben Walther Schückings (Anm. 2), S. 162.
8 FW 35 (1935), S. 197-201, hier S. 200.
9 Vgl. dazu auch Wehberg: Walther Schücking zum Gedächtnis, FW 45 (1945), S. 262-264.
10 Die ersten beiden Bezeichnungen stammen von Nicolas Politis bzw. Georges Scelle; vgl. FW 35 (1935), S. 179, 181, 184.
Diese Rezension wird auch in der Zeitschrift „Die Friedens-Warte – Journal of International Peace and Organization“ (Informationen unter: http://www.friedens-warte.de) erscheinen.

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